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Mentale Gesundheit
17. Juli 2023

Chronischer Schmerz: Kann man das Schmerzgedächtnis löschen?

Vanessa Heun

Sind chronische Schmerzen nur erlernt? Eine Erinnerung, abgespeichert, permanent aktiv? Und wenn ja, kann ich diese Erinnerung wieder löschen? Im letzten Blogbeitrag habe ich über chronische Schmerzen gesprochen, doch worauf ich dabei nur am Rande eingegangen bin, ist das Schmerzgedächtnis. Erinnern wir uns nochmal kurz zurück:

Das Schmerzgedächtnis vergleicht den akuten Schmerz mit gespeicherten Schmerzerfahrungen und nimmt daraufhin eine Bewertung vor. Das ist erstmal ein ganz normaler Prozess, doch scheint an dieser Stelle bei chronischen Schmerzen etwas schief zu laufen: wird ein Informationsweg über eine Synapse, also die Verbindung zweier Nervenköpfchen häufig verwendet (z.B. bei anhaltendem Schmerz), verändert sich diese Synapse: sie wird größer und die Übertragung funktioniert effektiver. Es entsteht quasi eine “Spur” im schmerzverarbeitenden System.

Werfen wir nochmal einen kurzen Blick darauf, was man unter Schmerzen alles verstehen kann: Schmerzen kann man nach Entstehungsort, Entstehungsursache, Dauer und Pathogenese unterteilen. Unterscheidet man nach pathogenetischen Kriterien, kann man hier nochmal zwischen Nozizeptor-, neuropathischen oder psychogenen Schmerzen unterteilen.  Nozizeptorschmerzen werden unterteilt in somatische (oberflächliche und tiefe) und in viscerale (Eingeweide) Schmerzen. Bei den neuropathischen Schmerzen (z.B. Phantomschmerzen) werden Schmerzen der peripheren Nerven, des Zentralnervensystems und der Nervenwurzel unterschieden.

An der Entstehung von Schmerzen sind zahlreiche biochemische und neuro-physiologische Vorgänge beteiligt. Im Grunde kann man sagen, dass Schmerzreize dann entstehen, wenn Nozizeptoren (freie baumförmig verzweigte Nervenenden) durch verschiedene Auslöser, wie Hitze oder Kälte, Durchtrennung, starkem Druck (Quetschung) oder durch chemische Reize, wie z.B. Säuren erregt werden. Solche Nozizeptoren finden sich in den Organen der Peripherie, also der Haut oder des Körperinneren in der Blase, der Skelettmuskulatur, in Sehnen und Gelenken.

Diese Nozizeptoren „schlafen“ zu einem großen Teil: Haut (20 bis 40%); Muskulatur (30 bis 40%); Gelenke (50%); Blase (95%). Besonders gut untersucht sind solche Veränderungen bisher im Rückenmark. Bei einer Entzündung jedoch werden sie aktiviert. Neben der direkten Reizung der Nozizeptoren kommt es zu einer entzündlichen Reaktion des betroffenen Gewebes. Das kennst du mit Sicherheit auch, wenn du dich an eine Verletzung zurück erinnerst.

Verschiedene Moleküle, Säuren und Ionen bilden sich in Folge der Gewebeschädidung, auf die ich hier aber nicht weiter eingehen möchte. Das würde den Rahmen sprengen. Es sei aber so viel gesagt: H + -Ionen, Kaliumionen, Histamin, Acetylcholin und Serotonin sind an diesem Prozess beteiligt.

Was hat das jetzt mit dem Schmerzgedächtnis zu tun?

Wir wissen jetzt: chronische Schmerzen können durch krankhafte Veränderungen der Signalverarbeitung im Nervensystem verursacht oder verstärkt werden. Unzureichend behandelte Schmerzen können somit regelrechte Spuren im Zentralnervensystem hinterlassen, die die Empfindlichkeit für Schmerzreize erhöhen und wichtige Neurotransmitter haben hier ihre Finger im Spiel. Auch auf hormoneller Ebene wird Schmerz angesprochen, indem Stresshormone ausgeschüttet werden, die die Sensibilisierung für Gefahr und negative Erfahrungen verstärken. Offenbar können starke Schmerzreize die synaptische Übertragung von Schmerzinformationen von äußeren Zonen des Körper, also dem peripheren auf das Zentralnervensystem in Rückenmark und Gehirn anhaltend verstärken.

Besonders spannend dabei ist, dass die synaptischen Veränderungen im Rückenmark denen im Hippocampus – ein Teil des limbischen Systems, der maßgeblich am Lernen und an der Bildung und Aufrechterhaltung von Gedächtnisinhalten beteiligt ist – ähnlich sind. Man kann also sagen, dass das Gehirn chronischen Schmerz lernt, auch wenn ganz strikt gesehen keine kognitiven Lernprozesse an der Bildung des Schmerzgedächtnisses beteiligt sind.

Praktisch wäre nun, wenn man diesen Lernprozess rückgängig machen könnte. Schließlich verlernen wir Dinge, denen wir nicht so oft nachgehen zu einem gewissen Teil ja auch wieder, oder? Aber das Löschen des Schmerzgedächtnisses ist zumindest pharmakologisch bislang nicht möglich, was es den Betroffenen nicht leichter macht, denn oftmals machen sie die Erfahrung, dass herkömmliche Schmerzmittel keine Wirkung zeigen.

Doch nur weil man bisher medikamentös nicht viel gegen das Schmerzgedächtnis machen kann, heißt das nicht, dass Betroffene sich gar keine Abhilfe verschaffen können.

In der Praxis schaue ich mir die Bedingungen rund um den Schmerz sowie die eigene Haltung zu diesem mit meinen Patient:innen an. Wenn Schmerz maßgeblich durch meine eigene Wahrnehmung zustande kommt, kann ich auch dort ansetzen, um Linderung herbeizuführen (und ja, ich weiß, dass das leichter gesagt ist, als getan).

Um das Ausmaß der Schmerzen zu verstehen, sollte man als allererstes verstehen, dass viele Faktoren zusammenkommen, die Schmerz auslösen oder verstärken. Dafür stelle ich gern folgende Fragen:

  • Wie lange bestehen die Schmerzen bereits?
  • In welcher Lebenssituation sind die Schmerzen erstmalig aufgetreten? Was wurde gegen die akuten Schmerzen unternommen?
  • In welchen Situationen verschlimmern sich die Schmerzen?
  • Sind die Ursachen eher physisch (z.B. durch langes Sitzen, beim Bücken/Heben), psychisch (Stress/private Probleme) oder wie in den meisten Fällen eine Mischung aus beidem?
  • Wie viel “Raum” nehmen die Schmerzen im Alltag ein? Wie sehr drehen sich Gedanken und Alltag um den Schmerz?

Manchmal kann man diese Fragen auch gar nicht auf Anhieb beantworten. Dann empfehle ich für 2-3 Wochen mal ein Schmerztagebuch zu führen. Welche Symptome traten in letzter Zeit häufig auf? Auf welche Aktivitäten wurden in letzter Zeit aufgrund der Schmerzen verzichtet? Wie kann man selbst einen positiven Beitrag leisten und aktiver werden? Was wird unternommen, wenn sich die Schmerzen verschlimmern? Welche persönlichen Belastungen bestehen derzeit? Welche weiteren Ideen gibt es, um die Schmerzen zu lindern?

1. Positive Gedanken fördern

Dieses Schmerztagebuch ist dann Grundlage für die nächste Übung. Wir wissen heute, dass auch unsere Gedanken und Glaubenssätze einen erheblichen Einfluss auf die Neuroplastizität des Gehirns haben und sich somit positiv auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerz auswirken können.

Lege eine Tabelle mit zwei Spalten im Tagebuch an und notiere in die linke Spalte „Schmerzverstärkende Gedanken“ und schreibe in die rechte Spalte „Ideen, um negative Gedanken abschwächen“.

Das kann zum Beispiel sein:

„Ich werde nie wieder frei von Schmerzen sein.“ oder „Ich kann heute keinen Sport machen, weil mir XYZ weh tut.“

Diese Gedanken kannst du jedoch abschwächen und deine Gedanken so umformulieren, dass sie nicht so endgültig und von Finalität geprägt sind.

Das kann zum Beispiel sein:

„Mein XYZ ist derzeit noch nicht frei von Schmerzen. Allerdings kann ich viel dafür tun, wieder schmerzfrei zu sein.“ oder “Ich habe derzeit zwar Schwierigkeiten beim Sport, aber ich versuche trotzdem, mich zu bewegen. Ich gehe es einfach langsam an, um mich wieder schrittweise an Bewegung zu gewöhnen. Ich weiß, dass Bewegung mir gut tut.“

2. Stress abbauen

Erinnerst du dich an die Stressreaktion, die ich weiter oben angesprochen habe? Auch hier lässt sich super eine weitere Stellschraube drehen. Das bewusste Einbauen von Entspannungsübungen in den Alltag kann dazu beitragen, dass sich die Gesamtspannung im Körper reduziert wird und sich somit ebenfalls positiv auf die Schmerzen auswirkt. Ich habe mit meinen Patient:innen schon sehr schöne Erfolge mit Techniken wie Atemübungen, Meditation, PMR, Yoga Nidra und Co. erzielen können. Ein weiterer netter Nebeneffekt: weniger (Ver)Spannungen führt meist zu einer Verbesserung der Schonhaltung, die man sehr oft unweigerlich einnimmt. Begleitschmerzen lassen sich somit auch positiv beeinflussen.

3. Einfach mal reden

Sehr oft unterschätzt – und doch so unglaublich machtvoll (obwohl ich als Psychologin da vielleicht auch einen kleinen Bias habe). Ich erlebe es sehr häufig, dass Betroffene meinen, sie müssten alles mit sich selbst ausmachen. Dass sie ihre Mitmenschen nur stören oder unnötig belasten, wenn sie sich ihre Sorgen und Ängste mit ihnen teilen. Oder einfach auch mal Jammern. Dabei kann es so entlasten sein, über seine Schmerzen zu sprechen. Klar, das Gegenüber kann die Schmerzen auch nicht nehmen, aber an dem Sprichwort “geteiltes Leid ist halbes Leid” ist halt schon was dran. Besonders hilfreich kann es sein, sich auch mit anderen Betroffenen auszutauschen. Vielleicht hat die Person schon Ähnliches erlebt und kann vielleicht sogar nützliche Ratschläge oder andere Perspektiven geben.

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Vanessa Heun
Vanessa Heun

Als Psychologin, die sich auf die Arbeit mit Schmerzpatienten spezialisiert hat, bringt Vanessa ein umfassendes Wissen in den Bereichen mentale Gesundheit, Resilienz, Stressmanagement und Kommunikation ein. Ihre Erkenntnisse aus dem klinischen Alltag bereichern ihr Fachgebiet mit praktischen und tiefgreifenden Einsichten.

Sein Motto: 
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Christian Kirchhoff

Christian ist Teil unseres Research Teams und beschäftigt sich täglich mit wissenschaftlichen Arbeiten und Studien. Er interessiert sich für das „Warum“ – also die Argumentationskette - hinter den Dingen und bereitet aktuelle Daten für Trainer, Therapeuten und Ärzte so auf, dass ihnen der Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gelingt.

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Quellen

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Lankes, F. et al. (2020). The effect of alexithymia and depressive feelings on pain perception in somatoform pain disorder. Journal of Psychosomatic Research 133

Basbaum, AI., Fields, H.L. (1984). Endogenous pain control systems: brainstem, spinal pathways and endorphin circuitry. Neuroscience; 7: 309–338.

Bliss, T.V.P., Collingridge, G.L (1993). A synaptic model of memory: long-term potentiation in the hippocampus. Nature; 361: 31–39.

Johnson, M.I., Ashton, C.H., Thompson, J.W. (1991). An in-depth study of long-term users of transcutaneous electrical nerve stimulation (TENS).Implications for clinical use of TENS. Pain; 44: 221–229.

Sandkühler, J. (2000). Learning and memory in pain pathways. Pain; 88: 113–118.

Butler, D., Moseley, L. (2016). “Schmerzen verstehen”, 3. Auflage, Springer Verlag

Goyal, M., Singh, S., Sibinga, E.M.S., et al. (2014). Meditation Programs for Psychological Stress and Well-being: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Intern Med.;174(3):357–368. doi:10.1001/jamainternmed.2013.13018

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