Immer besser, nie genug: Der stille Druck der Selbstvermessung

Das Streben nach Verbesserung ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis – so alt wie die Menschheit selbst. Doch während früher Werte wie Weisheit, Gelassenheit oder soziale Verantwortung im Vordergrund standen, liegt der Fokus heute zunehmend auf einem anderen Ideal: der kontinuierlichen Optimierung des Selbst. Apps, Wearables, Coaches und Wettbewerbe dominieren unseren Alltag – wir messen, planen und perfektionieren unser Leben. Doch wohin führt dieses Streben nach dem „besseren Ich“? Und ab wann wird Selbstoptimierung zur Belastung?
Das Selbst als Projekt: Dynamiken der Optimierungsgesellschaft
In der sogenannten Optimierungsgesellschaft ist das eigene Leben längst zum Projekt geworden. Digitale Tools, soziale Medien und eine Flut an Selbsthilfeliteratur fordern uns dazu auf, Körper, Geist, Emotionen und Leistung kontinuierlich zu hinterfragen und zu verbessern. Die Arbeit am Selbst ist dabei nicht mehr nur ein individueller Lifestyle, sondern wird zunehmend zur sozialen Pflicht: Wer Fortschritte sichtbar macht, wird mit Likes, Anerkennung und Aufmerksamkeit belohnt – wer stagniert, riskiert den Verlust an Relevanz (Kastenbutt, Legnaro & Schmieder, 2018).
In unserer alternden Gesellschaft wird das Streben nach ewiger Jugend und Gesundheit immer bedeutender. Der Wunsch, den Alterungsprozess aufzuhalten, spiegelt sich im Boom von Gesundheits- und Wellnessangeboten wider – Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Individualisierung und Selbstverwirklichung (Wenzel, 2024).
Somit ist Selbstoptimierung in der beschleunigten Gegenwart beinahe zur Pflicht geworden. Kreativität, Eigenverantwortung und Leistungsfähigkeit gelten als Schlüssel zum Erfolg – wer mithalten will, muss an sich arbeiten. In einer Kultur, in der Leistung als Maßstab für Selbstwert gilt, erscheint kontinuierliche Selbstverbesserung nicht nur als Ideal – sondern als Notwendigkeit (Balandis & Straub, 2018).
Der Wunsch nach Kontrolle und seine Schattenseiten
Digitale Technologien ermöglichen heute die Vermessung nahezu jedes Lebensbereichs: Schlafdauer, Kalorienzufuhr, Konzentrationszeit, Stimmung oder Produktivität. Diese Daten versprechen Orientierung in einer komplexen Welt. Doch je mehr wir messen, desto häufiger stellt sich die Frage: Was tun mit all diesen Informationen? Muss ich mich verändern? Bin ich überhaupt noch „normal“? Hier zeigt sich die Ambivalenz der Selbstoptimierung: Einerseits bietet sie Chancen zur Selbstverwirklichung und fördert persönliche Zufriedenheit. Andererseits dient sie auch der Anpassung an ein zunehmend leistungsorientiertes Gesellschaftssystem – eines, das Flexibilität, Kreativität, Belastbarkeit und permanente Verfügbarkeit erwartet (Kastenbutt et al., 2018).
Der Begriff „Optimierung“ stammt vom lateinischen optimus – „der Beste“. Anders als Perfektion, die ein abgeschlossenes Ideal meint, beschreibt Optimierung einen nie endenden Prozess: Es geht nicht um ein Ziel, sondern um stetige Verbesserung. In modernen Gesellschaften hat sich daraus eine Kultur entwickelt, in der nicht nur Technik und Wirtschaft, sondern auch das Individuum ständiger Verbesserung unterworfen ist (Balandis & Straub, 2018).
Doch dieser Weg ist nicht ohne Risiko. Die permanente Selbstbeobachtung, das ständige Vergleichen mit vermeintlich besseren Anderen, kann zu einem Kreislauf aus Selbstkritik, Druck und Überforderung führen. Besonders kritisch wird es, wenn die Motivation weniger auf intrinsischer Selbstentwicklung beruht als auf einem defizitorientierten Selbstbild (Wenzel, 2024).
Forschungsprojekt: “Das vermessene Leben”
Self-Tracking, also die digitale Aufzeichnung von Körperfunktionen und Verhaltensweisen, ist längst zum festen Bestandteil des Alltags geworden. Schrittzahlen, Schlafqualität oder Bildschirmzeit werden minutiös erfasst und bewertet. Was zunächst als Selbstfürsorge erscheint, erfüllt häufig das Bedürfnis nach Kontrolle. Doch diese Kontrolle hat ihren Preis. Die Interviews des Forschungsprojekts „Das vermessene Leben“ zeigen: Die eigenen körperlichen Bedürfnisse werden zunehmend durch die Vorgaben von Apps ersetzt. Das Vertrauen in Technik verdrängt die eigene Intuition. Die Verbesserung bestimmter Messwerte – etwa ein besserer Schlaf oder niedrigere Herzfrequenz – wird zum persönlichen Projekt, das Selbstwert und Lebenssinn beeinflusst. Aus Selbstvermessung kann so psychischer Druck entstehen: Schuldgefühle bei Nichterfüllung der Ziele, emotionale Erschöpfung, depressive Verstimmungen oder ein zunehmender Zwang, „funktionieren“ zu müssen (King et al., 2022).
Neuroenhancement: Leistungssteigerung mit Risiken
Besonders drastisch zeigt sich der gesellschaftliche Optimierungsdruck im Bereich des Neuroenhancements – also der gezielten Einnahme von Psychopharmaka zur Steigerung kognitiver Leistungsfähigkeit. Substanzen wie Methylphenidat (Ritalin) oder Modafinil, ursprünglich zur Behandlung von ADHS oder Narkolepsie entwickelt, werden zunehmend von gesunden Menschen eingenommen, um Konzentration, Wachheit und Motivation zu verbessern (Feustel, Schmidt-Semisch & Bröckling, 2024).
Doch die Wirkung ist bei gesunden Personen oft geringer als erhofft – und die Risiken erheblich: Schlaflosigkeit, Nervosität oder Herz-Kreislauf-Beschwerden können auftreten (Balandis & Straub, 2018). Bereits 2008 gaben in einer Umfrage des Wissenschaftsmagazins Nature rund 20 % der Teilnehmenden an, Medikamente wie Ritalin oder Modafinil ohne medizinische Indikation konsumiert zu haben (Maher, 2008). Der DAK-Gesundheitsreport „Doping am Arbeitsplatz“ zeigte 2009: 4,9 % der Berufstätigen zwischen 20 und 50 Jahren hatten bereits leistungssteigernde Substanzen eingenommen und auch unter Studierenden wurde das Phänomen untersucht. Eine Studie zeigte, dass 0,78 % der Studierenden schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente zur Leistungssteigerung genutzt hatten. Weitere 2,93 % griffen dafür auf solche Medikamente oder illegale Substanzen, wie Kokain, zurück (DAK, 2009; Franke et al., 2011).
Diese Art der Selbstoptimierung ist rechtlich problematisch: Der Besitz verschreibungspflichtiger Medikamente ohne Rezept ist in Deutschland illegal. Zudem verschiebt sich durch den Konsum die gesellschaftliche Norm – hin zu einem Bild, in dem Leistung nur noch pharmakologisch erreichbar scheint.
Zwischen Fortschritt und Suchtfalle
Was harmlos beginnt – etwa mit einem Schrittzähler – kann in eine gefährliche Dynamik kippen. Die tägliche Zielerreichung wirkt belohnend, Dopamin wird ausgeschüttet, ein kurzfristiges Hoch entsteht. Doch mit der Zeit reicht das Erreichte nicht mehr aus. Die Ziele steigen, der Druck wächst – ein Muster, das stark an klassische Suchtverläufe erinnert (Soyka et al., 2024).
Der ständige Vergleich auf Social Media oder Fitnessplattformen verstärkt diesen Effekt. Wer zurückfällt, erlebt Unzufriedenheit oder Schuldgefühle. Pausen erscheinen als Schwäche, kleine Abweichungen als persönliches Scheitern. Die eigene Leistung wird zunehmend zum Maßstab für den Selbstwert. Dieses ständige Vergleichen kann auf Dauer zu Selbstzweifeln, Erschöpfung und im schlimmsten Fall zu ernstzunehmenden psychischen Belastungen führen.
Selbstoptimierung dient oft tieferen Bedürfnissen: weniger der Fitness, mehr dem Streben nach Selbstwert und Zugehörigkeit. In einer leistungsorientierten Gesellschaft wird sie zum Mittel, um Anerkennung zu erlangen – sei es durch Daten, Fortschritt oder Substanzen (Soyka et al., 2024).
Was bedeutet das für Health Professionals?
Für Health Professionals ist es essenziell, diese Dynamiken zu erkennen. Selbstoptimierung erscheint oft gesund, diszipliniert, reflektiert – doch hinter dieser Fassade können sich innerer Zwang, Druck oder ein Gefühl des Getriebenseins verbergen (Bröckling, 2019). Bei der Begleitung von Klienten sollten Health Professionals also genau hinschauen: Wird Optimierung aus innerem Antrieb oder unter äußerem Druck betrieben? Dient sie der Selbstfürsorge – oder ist sie bereits zur Last geworden? Zeigen sich Anzeichen psychischer Überforderung? Wird auf Medikamente oder Technik vertraut, statt auf das eigene Empfinden?
Hier die 4 wichtigsten Handlungsleitlinien für die Praxis:
1. Hinterfragen statt verstärken: Routinen, die auf den ersten Blick gesund wirken, sollten im Coachingkontext immer hinterfragt werden. Wird die Aktivität aus Freude oder z. B. aus Angst, „nicht zu genügen“, durchgeführt?
2. Perfektionismus erkennen: Health Professionals sollten achtsam sein gegenüber Anzeichen von Perfektionismus. Dazu gehört etwa, wenn Klienten keine Pausen zulassen, Routinen nicht unterbrechen können oder stark negativ auf vermeintliche „Fehler“ reagieren.
3. Bedeutung für Selbstfürsorge stärken: Menschen, die lernen, auch ihre Begrenztheit und ihr Bedürfnis nach Ruhe als legitim anzuerkennen, entwickeln häufig ein gesünderes Verhältnis zu sich selbst. Health Professionals können hier durch wertschätzende Spiegelung und Raum für Emotionen wesentlich unterstützen.
4. Daten sinnvoll einordnen: Digitale Tracker und Gesundheitsdaten können hilfreich sein – sollten im Coaching aber immer im Kontext interpretiert werden. Subjektive Erfahrungen, wie Energielevel, Stimmung oder auch die gefühlte Belastbarkeit, sind ebenso wichtig. Ein ganzheitlicher Blick schützt davor, dass Zahlen wichtiger werden als das tatsächliche Wohlbefinden.
Gerade in einer Welt, in der Zahlen über Wohlbefinden entscheiden und Vergleiche überall präsent sind, braucht es eine neue Balance: Eine, die Selbstentwicklung nicht als Pflicht versteht, sondern als Möglichkeit. Eine, die anerkennt, dass Gesundheit mehr ist als ein Wert auf dem Bildschirm – und dass wahre Stärke manchmal in der Pause liegt.
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Balandis, O., & Straub, J. (2018). Selbstoptimierung und Enhancement. Der sich verbessernde Mensch - ein expandierendes Forschungsfeld. Journal für Psychologie, 26(1), 131-155. https://doi.org/10.30820/8247.09
Bröckling, U. (2019). Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (7. Aufl.). Suhrkamp Verlag.
DAK (2009). Gesundheitsreport 2009. Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz. Hamburg.
Feustel, R., Schmidt-Semisch, H., & Bröckling, U. (2024). Handbuch Drogen in sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.
Franke, A. G., Bonertz, C. , Christmann, M., Huss, M., Fellgiebel, A., Hildt, E. & Lieb, K. (2011). Non-Medical Use of Prescription Stimulants and Illicit Use of Stimulants for Cognitive Enhancementin Pupils and Students in Germany. Pharmacopsychiatry 44: 60–66.
Kastenbutt, B., Legnaro, A. & Schmieder, A. (Hrsg.) (2018). Drogenkonsum zwischen Repression und Kontrolle. LIT.
King, V., Gerisch, B. & Rosa, H. (Hrsg.) (2022). Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Suhrkamp.
Maher, B. (2008). Poll results: look who’s doping. Nature 452: 674–675.
Schreiber, J. (2021). Körperoptimierung: Selbstverbesserung zwischen Steigerungsdruck und Leibgebundenheit. Springer VS. https://doi-org.pxz.iubh.de:8443/10.1007/978-3-658-36018-4.
Soyka, M., Batra, A., Moggi, F. & Walter, M. (Hrsg.) (2024). Suchtmedizin. Deutschland: Urban & Fischer.
Wenzel, E. (2024). Megatrend Gesundheit: Wie Digitalisierung und Individualisierung unsere Gesundheitsversorgung revolutionieren: 10 Trends und 30 Learnings für die Zukunft. Springer Berlin Heidelberg. Doi.org/10.1007/978-3-662-68688-1