Blutzucker-Tracking für Gesunde: Sinnvoll oder überschätzter Hype?

Kontinuierliche Glukosemessung (CGM) hat ihren festen Platz in der Diabetestherapie. Doch zunehmend greifen auch gesunde Menschen zu CGM-Sensoren, um ihren Blutzuckerverlauf zu analysieren, Mahlzeiten zu bewerten oder ihren „metabolischen Score“ zu verbessern. Was davon wissenschaftlich haltbar ist und was Wunschdenken, zeigt ein genauer Blick in die Datenlage.
Theoretische Potenziale vs. empirische Evidenz
Die Idee hinter CGM im Präventionskontext klingt zunächst plausibel. Wer seinen Glukoseverlauf kontinuierlich beobachtet, erkennt individuelle Reaktionen auf Mahlzeiten, Bewegung oder Stress. Daraus lassen sich (so die Hoffnung) gezielte Verhaltensänderungen ableiten, um langfristig die glykämische Variabilität (also die Blutzuckerschwankungen im Tagesverlauf) zu senken und die metabolische Gesundheit zu verbessern. Viele Anbieter versprechen dadurch eine bessere Stoffwechselgesundheit, sogar die Vorbeugung von Diabetes.
Das sogenannte „Working Model“ im Wellness- und Biohacking-Bereich basiert auf drei Schritten: Glukoseabweichungen erkennen, Verhalten anpassen und dadurch langfristig die metabolische Gesundheit verbessern (Oganesova et al., 2024).

Doch so überzeugend dieser Kreislauf visuell auch wirkt, er ist bislang nicht durch hochwertige Evidenz belegt. Die aktuelle Studienlage zeigt deutlich:
- Es gibt keine validierten klinischen Zielwerte für gesunde Personen,
- keine standardisierten Handlungsempfehlungen auf Basis von CGM-Daten,
- und keine prospektiven Langzeitstudien, die zeigen, dass die beschriebenen Effekte in der Realität tatsächlich eintreten (Wright & Subramanian, 2021; Oganesova et al., 2024).
Viele der derzeit kommunizierten Effekte beruhen somit mehr auf theoretischer Plausibilität und Marketing als auf gesicherter Wissenschaft. Besonders die Annahme, dass eine niedrigere glykämische Variabilität bei Gesunden automatisch mit besseren Gesundheitsoutcomes einhergeht, wird in der Fachliteratur als spekulativ bewertet.
Was CGM wirklich misst und wo die Grenzen liegen
CGM-Geräte messen nicht den Blutzucker im Blut, sondern im Zwischenzellgewebe, mit einer leichten Zeitverzögerung. Das ist für viele Anwendungen ausreichend. Doch bei gesunden Personen, die feinere Unterschiede beobachten wollen, zeigt sich: Die Werte sind oft systematisch zu hoch.
In einer aktuellen Studie wurde untersucht, wie genau CGM bei gesunden Menschen eigentlich misst und wie stark die Werte vom klassischen Blutzuckertest (z. B. per Fingerstich) abweichen (Hutchins et al., 2025). Das Ergebnis: Der Sensor zeigte im Schnitt rund 0,9 mmol/L mehr an, als tatsächlich im Blut gemessen wurde. Sowohl morgens nüchtern als auch nach dem Essen. Das entspricht etwa 16 % zu viel und bei einzelnen Werten sogar bis zu 22 % Abweichung.
Besonders deutlich war der Unterschied nach Mahlzeiten. Ein Wert, der im CGM als „hoch“ erscheint, war in Wahrheit oft gar nicht kritisch. In der Studie wurde untersucht, wie lange der Sensor einen erhöhten Wert anzeigte. Genauer gesagt: Werte über 7,8 mmol/L. Dieser Wert wird oft in der Medizin verwendet, um auffällige Blutzuckeranstiege zu bewerten, z. B. bei Zuckerbelastungstests oder bei Verdacht auf eine gestörte Glukosetoleranz.
Das Problem: Der Sensor hat die Zeit über diesem Schwellenwert 3- bis 4-mal länger angezeigt, als sie tatsächlich war. Das heißt, die Daten sahen viel dramatischer aus, als sie in Wirklichkeit waren. Warum das wichtig ist? Weil viele Menschen daraus falsche Schlüsse ziehen. Wenn der Sensor z. B. zeigt, dass der Blutzucker „lange zu hoch“ war, obwohl das gar nicht gestimmt hat, entsteht schnell die Sorge: War das Essen schlecht für mich? Habe ich ein Zuckerproblem? Aber, bei gesunden Menschen sind solche vorübergehenden Anstiege ganz normal. Nach dem Essen darf der Blutzucker kurz steigen. Das ist keine Fehlfunktion, sondern ein gesunder, natürlicher Vorgang.
Wie stark die CGM-Werte verzerren können, zeigt sich besonders bei Lebensmitteln mit komplexer Zusammensetzung. In der genannten Studie wurden industrielle Fruchtsmoothies vom CGM deutlich kritischer bewertet. Der glykämische Index lag laut Sensor bei 69. Die kapilläre Referenzmessung zeigte hingegen nur 53. Das bedeutet, ein Lebensmittel, das objektiv unproblematisch ist, erscheint im CGM „zuckerreicher“ als es tatsächlich ist. Für Nutzer:innen kann das zur Folge haben, dass gesunde Optionen vermieden und möglicherweise durch ungeeignete Alternativen ersetzt werden.
Wie zuverlässig sind persönliche Glukoseantworten?
Ein häufiges Argument für CGM lautet: „Jede/r reagiert unterschiedlich auf Lebensmittel.“ Und das stimmt, aber nur zum Teil. Studien zeigen auch, die Glukoseantwort kann selbst bei identischen Mahlzeiten stark schwanken, auch bei ein und derselben Person (Hengst et al., 2023). Faktoren wie Bewegung, Stress, Schlafqualität oder hormonelle Einflüsse können die Glukoseresponse teils stärker beeinflussen als das Lebensmittel selbst. Das stellt die Reproduzierbarkeit und Aussagekraft individueller CGM-Daten infrage. In der Praxis bedeutet das, nur weil ein Lebensmittel an einem Tag einen stärkeren Anstieg auslöst, heißt das nicht, dass es „immer schlecht“ ist. Aus einer einzelnen Messung lässt sich keine valide Ernährungsempfehlung ableiten.
Nicht zuletzt rückt ein weiterer Aspekt in den Fokus und zwar die psychologische Wirkung. Wer kontinuierlich Glukosewerte beobachtet (ohne medizinische Notwendigkeit) läuft Gefahr, normale Schwankungen zu pathologisieren. Expert:innen warnen vor möglichen Folgen wie übertriebene Kontrolle, Angst vor natürlichen Reaktionen und restriktives Essverhalten. Besonders betroffen sind oft gesundheitsbewusste Menschen, also genau jene Zielgruppe, die CGM freiwillig nutzt.
Und was heißt das für die Praxis?
CGM liefert interessante Einblicke, dass steht außer Frage. Aber, für gesunde Menschen ist nicht belegt, dass diese Einblicke zu einer besseren Gesundheit führen. Die Geräte sind in dieser Zielgruppe nicht validiert, Referenzwerte fehlen, die Interpretation ist fehleranfällig und die Wirkung bleibt spekulativ. Für gezielte Selbstbeobachtungen, z. B. zur Reaktion auf einzelne Mahlzeiten, bleibt die klassische kapilläre Messung (z. B. per Fingerstich vor und nach dem Essen) die verlässlichere Methode. Sie ist einfacher zu interpretieren und reduziert das Risiko, aus scheinbar „schlechten“ Daten falsche Schlüsse zu ziehen.
Trotzdem kann ein CGM in einem Coaching-Kontext durchaus sinnvoll sein, wenn es gezielt, kurzfristig und mit klarer Fragestellung eingesetzt wird – etwa um Muster zu erkennen, individuelle Reaktionen auf bestimmte Ernährungs- oder Lifestylefaktoren zu erfassen oder die Subjektiv-Objektiv-Diskrepanz zwischen „wie fühle ich mich“ und „was passiert physiologisch“ sichtbar zu machen. Entscheidend ist, dass Coaches und Klient:innen gemeinsam eine fundierte Einordnung vornehmen und das CGM als Tool zur Selbstreflexion und Verhaltensmodifikation betrachten.
In welchem Kontext CGM sinnvoll sein kann, welche Fallstricke in der praktischen Umsetzung lauern und wie du als Coach oder TherapeutIn dieses Tool sinnvoll einsetzt, lernst du praxisnah in unserer Medletics Health Coach Ausbildung.
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Hengist, A., Ong, J. A., McNeel, K., Guo, J., & Hall, K. D. (2023). Imprecision nutrition? Duplicate meals result in unreliable individual glycemic responses measured by continuous glucose monitors across four dietary patterns in adults without diabetes. https://doi.org/10.1101/2023.06.14.23291406
Hutchins, K. M., Betts, J. A., Thompson, D., Hengist, A., & Gonzalez, J. T. (2025). Continuous glucose monitor overestimates glycemia, with the magnitude of bias varying by postprandial test and individual - a randomized crossover trial. The American journal of clinical nutrition, 121(5), 1025–1034. https://doi.org/10.1016/j.ajcnut.2025.02.024
Wright, E. E., & Subramanian, S. (2021). Evolving Use of Continuous Glucose Monitoring Beyond Intensive Insulin Treatment. Diabetes Technology & Therapeutics, 23(S3), S-12-S-18. https://doi.org/10.1089/dia.2021.0191
Oganesova, Z., Pemberton, J., & Brown, A. (2024). Innovative solution or cause for concern? The use of continuous glucose monitors in people not living with diabetes: A narrative review. Diabetic Medicine, 41(9). https://doi.org/10.1111/dme.15369