Mehr Infos
Medizin
29. April 2025

Case Study: Chronischer Rückenschmerz ganzheitlich gedacht

Sabrina Simma
Vanessa Muschick

Moderne Therapie braucht mehr als nur Bildgebung oder isolierte Physiotherapie! Ein 35-jähriger Rechtsanwalt, sportlich aktiv, leistungsorientiert, mit dauerhaftem Rückenschmerz – auf den ersten Blick ein typischer Fall. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein komplexes Zusammenspiel körperlicher, emotionaler und verhaltensbezogener Einflussfaktoren. Ein Fall, der deutlich macht: Wer Rückenschmerz nur auf strukturelle Diagnosen reduziert, wird ihm nicht gerecht. Und lässt oft genau das unbeachtet, was langfristig den größten Unterschied macht.

Vorgeschichte des Patienten

Der Patient stellte sich mit seit über 11 Monaten bestehenden Beschwerden im unteren Rücken vor. Die Symptome traten vor allem beim Sitzen und nach dem Training auf – begleitet von Schlafproblemen, Müdigkeit und erhöhter Infektanfälligkeit.

Vorab durchgeführte Bildgebungen zeigten eine Spondylarthrose und eine Bandscheibenprotrusion mit radikulärer Beteiligung. Was klinisch zunächst nach einem „klassischen Fall“ klingt, offenbarte sich in der funktionellen Untersuchung jedoch als widersprüchlich: Keine neurologischen Ausfälle, keine relevanten strukturellen Auffälligkeiten im Bewegungsverhalten – die Befunde passten nicht zum Schmerzbild.

Die Anamnese aus einer ganzheitlichen Perspektive

Im vertiefenden Erstgespräch wurde deutlich, dass der Patient beruflich und privat stark gefordert war: alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern, hohe Arbeitsbelastung als Strafverteidiger, kaum Zeit für Erholung. Zudem hatte er vor etwas mehr als einem Jahr beide Eltern verloren – ein Verlust, der bis heute nicht verarbeitet wurde.

Auch das Bewegungsverhalten zeigte Diskrepanzen: Zwar war er regelmäßig im Powerlifting aktiv, jedoch fehlten alltagsausgleichende Bewegungsformen wie Spaziergänge oder Mobility. Sein Training war intensiv, aber einseitig – der Fokus lag auf Leistung, nicht auf Regulation. Zudem zeigte ein Atemscreening eingeschränkte Expansion im postero-lateralen Rumpfbereich.

Ernährung, Schlaf und Stressmanagement? Deutlich verbesserungsfähig. Kein Frühstück, kaum Mittagessen, dafür bis zu sechs Tassen Kaffee täglich. Einschlafprobleme, nächtliches Grübeln, Erschöpfung am Tag.

In der Zusammenschau ergibt sich ein typisches Muster chronischer Beschwerden: hohe körperliche Belastung, kombiniert mit psychischer Beanspruchung, emotionalem Stress und mangelnder Regeneration – ohne dass diese Zusammenhänge bislang therapeutisch thematisiert wurden.

Stattdessen: Bildgebung, Trainingspläne, Schmerzmittel – ohne nachhaltige Wirkung.

Deshalb stand zu Beginn unserer Arbeit nicht die Trainingsplanung im Vordergrund, sondern ein anderer Fokus: Edukation, Kontextklärung und Anpassung der Trainingsbelastung.

Außerdem erfolgte im Anschluss an die Anamnese eine ganzheitliche Labordiagnostik zur Abklärung systemischer Einflussfaktoren:

Ziel: Identifikation physiologischer Mitverursacher von Erschöpfung & Schlafproblemen.

Kontextbezogenes Blutpanel:

  • Standardwerte: kleines Blutbild, Leberwerte, Blutfette, HbA1c zur Beurteilung metabolischer Kapazitäten
  • Cortisol-Tagesprofil (Speichel) zur Abbildung der Stressachse im Tagesverlauf
  • Mikronährstoffe: Magnesium, Zink, Selen und Calcium im Vollblut, Kalium und Natrium im Serum
  • Vitamine: B9, B12 und Vitamin D3 – sowohl in der aktiven (1,25 OH) als auch in der Speicherform (25 OH) – ergänzt um den Homocysteinwert zur Einschätzung kardiovaskulärer und zellulärer Belastung
  • Omega-3-Index (Fettsäureprofil) zur Bewertung entzündlicher Milieus
  • Hormone: Testosteron gesamt, SHBG und Albumin (zur Berechnung des freien Testosterons), Estradiol, Progesteron sowie TSH, fT3, fT4, rT3 zur Einschätzung der hormonellen Gesamtlage und möglicher Stress-/Schilddrüsenregulation

Die erweiterte Labordiagnostik zeigte mehrere moderate Abweichungen, die den subjektiven Zustand des Patienten stimmig ergänzten:

  • Magnesium: im unteren Referenzbereich – typisch bei chronischem Stress & Schlafproblemen
  • Zink: im unteren Referenzbereich – ein möglicher limitierender Faktor für eine adäquate Androgenbalance
  • Vitamin D3 (25-OH): suboptimal trotz Sommermessung → negativ korreliert mit Immun- & Muskelfunktion
  • Omega-3-Index: < 5 % – unter dem empfohlenen therapeutischen Zielbereich (>8 %)
  • Vitamin B12 & B9: grenzwertig niedrig, Homocystein leicht erhöht
  • Cortisolprofil: flach, mit eingeschränkter Morgenaktivierung – Hinweis auf Dysregulation der HPA-Achse
  • Freies Testosteron (berechnet): im unteren Normbereich trotz Gesamtwert im Referenzintervall

Die ausführliche Eingangsanamnese sowie die Auswertung der Laborparameter lieferten die Grundlage für gezielte Empfehlungen im Bereich Lifestyle, Ernährung und Nährstofftherapie.

Die umfassende Therapiestrategie

Bei chronischem, unterem Rückenschmerz reichen rein strukturelle Interventionen wie isolierte Physiotherapie meist nicht aus. Deshalb erfolgte die Begleitung des Patienten in einem systematisch ganzheitlichen Aufbau, der körperliche, emotionale, verhaltensbezogene und biochemische Faktoren gleichermaßen berücksichtigte.

Die folgenden Interventionen wurden im Verlauf gemeinsam mit dem Patienten regelmäßig evaluiert und dann individuell angepasst.

1. Edukation und Kontextklärung

Ziel: Reduktion von Angst, Aufbau von Verständnis und Autonomie

Maßnahmen:

  • Erklärung der bildgebenden Befunde im Verhältnis zur klinischen Relevanz („Befund ist nicht gleich Symptom“)
  • Aufklärung über die Natur unspezifischer Rückenschmerzen und den biopsychosozialen Schmerzansatz
  • Visualisierte Kommunikation über Belastungsfähigkeit, Gewebereparatur und Schmerzmodulation
  • Erklärung des Zusammenhangs zwischen Stress, Erschöpfung, Schlafqualität und Schmerzempfinden
  • Verdeutlichung, dass Bewegung bei Rückenschmerz nicht schadet, sondern schützt – wenn sie angepasst erfolgt

2. Bewegungs- & Trainingsanpassung

Ziel: Belastungsregulation, funktionelle Verbesserung, Schmerzreduktion

Maßnahmen:

  • Analyse von Trainingsvideos mit Fokus auf Technik unter submaximalen und maximalen Lasten im Powerlifting (v. a. Deadlifts)
  • Bewegungsmuster-Vergleich zwischen früherem und aktuellem Technikniveau
  • Identifikation möglicher Überlastungsfaktoren und Bewegungskompensationen (v. a. Zugbewegung bis zur Tibia bei schwerem Heben)
  • Empfehlung: vorübergehende Reduktion der Intensität, Integration von Regressionen wie Block Pulls (Heben von erhöhter Position), Fokus auf exzentrische Kontrolle
  • Einführung einer Ergänzungsübungsauswahl, z. B.:
    • Planks (seitlich & frontal) zur Rumpfstabilität
    • Farmers Carries in Suitcase- und Offset-Variationen zur lateralen Spannung
    • Kneeling Slam Balls zur Ansteuerung dynamischer Rotation & antirotationaler Stabilität
    • DNS-Übungen zur Atemintegration & segmentalen Kontrolle
    • Deadbug-Varianten, Pallof Press, Hip Airplanes zur Becken-LWS-Koordination
  • Integration eines differenzierten Zusatztrainingsplans neben dem bestehenden PWL-Plan (3x/Woche 20 Min)

3. Atemmechanik & Nervensystemregulation

Ziel: Verbesserung der intraabdominellen Druckverhältnisse & Stressverarbeitung

Maßnahmen:

  • Atemscreening zeigte eingeschränkte Expansion im postero-lateralen Rumpfbereich
  • Einführung von Supine 90/90 Breathing mit Widerstandsband zur bewussten Rumpfexpansion
  • Ziel: Aufbau eines aktiven Bracings ohne Gewichthebergürtel (autonome Rumpfstabilisierung)
  • Kombination mit Box Breathing (4-4-4-4) zur parasympathischen Aktivierung
  • Tägliches Journaling mit Fokus auf Tagesrückblick, Stressoren und Energielevel („Track my Day“) zur Mustererkennung

4. Ernährung & Nährstoffe

Ziel: Verbesserung der Nährstoffdichte, Stabilisierung von Blutzucker, entzündungshemmende Unterstützung

Maßnahmen:

  • Etablierung einer strukturierten Mahlzeitenfrequenz (Frühstück, Lunch, Abendessen + Snacks)
  • Fokus auf mediterrane Ernährung: hochwertige Fette, ballaststoffreiche Kohlenhydrate, sekundäre Pflanzenstoffe, wenig verarbeitete Produkte
  • Reduktion des Koffeinkonsums (von 6 Tassen auf max. 2)
  • Integration von „Meal-Prep“-Strategien im Arbeitsalltag (z. B. proteinreiche Snacks, vorbereitetes Mittagsessen – “Lunch Boxes”)
  • Magnesiumkomplex zur Unterstützung von Schlaf, Parasympathikus & Muskeltonus
  • Vitamin D3 + K2
  • Omega-3-Fettsäuren (EPA/DHA) zur antientzündlichen Unterstützung
  • B-Komplex (aktivierte Form) zur Senkung von Homocystein & Mitochondrienunterstützung
  • Aswagandha als Adaptogen zur rhythmischen Reaktivierung der Cortisolantwort
  • Zink um die hormonelle Achse und insbesondere das Verhältnis von freiem zu gebundenem Testosteron zu optimieren

5. Erholung im Alltag

Ziel: Förderung regenerativer Reize & Bewegungsvielfalt jenseits des Sports

Maßnahmen:

  • Einführung von aktiven Mobilitätsroutinen (10 Minuten morgens oder abends) mindestens 3x/Woche
  • Radfahren zur Arbeit 3x/Woche als stressfreie, aerobe Grundlageneinheit
  • „Stress-Debrief“ abends: 10 Min ohne Bildschirm, z. B. Journaling oder Atemübung
  • Abendroutine zur Schlafhygiene: Blaulichtreduktion, feste Schlafenszeiten,
  • Förderung eines „Regenerationsmindsets“: Leistung ≠ Fortschritt allein – Balance als Strategie

Das Ziel dieses Therapiekonzepts war nicht durch isolierte, alleinstehende Maßnahmen die Beschwerden zu lindern, sondern eine individuelle ganzheitliche Strategie, die der Patient versteht, akzeptiert – und selbst mitgestaltet – zu entwickeln.

Outcome – Der Verlauf über 12 Wochen

Woche 0–2: Startphase

  • Fokus auf Edukation, Technikanalyse und erste Anpassungen im Training (Reduktion der Intensität, Einführung von Atemarbeit & Alltagsaktivierung)
  • Patient beginnt mit Journaling & Box Breathing, erste reflektierende Gespräche über Stressoren
  • Schmerzniveau: VAS 6 → VAS 4–5, v. a. durch verbesserte Bewegungsstrategie im Alltag (z. B. weniger Autofahren, nicht nur Sitzen bei der Arbeit, sondern auch Stehen und Bewegungspausen)

Woche 3–6: Etablierung von Routinen & Trainingstherapie

  • Integration eines funktionellen Zusatztrainings mit Rumpf- und Atemintegration
  • Kontinuierliche Anwendung der Edukationsinhalte („Schmerz ≠ Schaden“) im Alltag
  • Erste subjektive Verbesserungen im Energielevel & Schlaf
  • Schmerzniveau: VAS 3–4, Beschwerden deutlich seltener & weniger belastend
  • Patient beschreibt mehr Selbstwirksamkeit & weniger Bewegungssorgen

Woche 7–12: Belastungssteigerung & Stabilisierung

  • Wiederaufnahme technisch sauberer Deadlift-Varianten mit submaximalen Lasten
  • Regelmäßiges Fahrradfahren zur Arbeit wird etabliert
  • Patient fühlt sich „wieder belastbar“, keine Einschränkung mehr im Alltag
  • Ernährung strukturiert, Koffein reduziert, 1–2 warme Mahlzeiten/Tag integriert
  • Schlaftiefe & -dauer nehmen zu, subjektive Erholung verbessert
  • Schmerzniveau: VAS 1–2 (selten, z. B. nach sehr intensiven beruflichen Tagen)
  • kein Schmerzvermeidungsverhalten mehr, volle Bewegungsfreiheit

Gesamtbewertung nach 3 Monaten

  • Keine nennenswerten Bewegungseinschränkungen mehr
  • Volle berufliche & familiäre Belastbarkeit
  • Subjektives Wohlbefinden signifikant verbessert
  • Schmerzerleben stark reduziert, keine Chronifizierungszeichen mehr
  • Patient verfügt über ein verständliches, alltagstaugliches Selbstmanagement-Modell
  • Eine erste Labornachkontrolle zeigte deutliche Verbesserungen aller zuvor identifizierten Mängel, insbesondere im Bereich Vitamin D, Omega-3, freies Testosteron und Mikronährstoffstatus (v. a. Magnesium & Zink)

Fazit: Chronischer, unterer Rückenschmerz ist mehr als ein körperliches Symptom

Gerade bei chronischen Beschwerden wie dem unspezifischen Rückenschmerz reicht es nicht, einzelne Symptome zu behandeln. Viel wirksamer ist es, den Menschen als Ganzes zu betrachten: mit seinen Gewohnheiten, Emotionen, Herausforderungen – und mit seinen Ressourcen.

Und genau hier zeigt sich der Mehrwert eines ganzheitlichen Ansatzes!

Der vorliegende Fall verdeutlicht, wie wichtig es ist, unterschiedliche Perspektiven miteinander zu verbinden: klinisch, funktionell, emotional, verhaltensorientiert. Genau hier kommt die Rolle des Health Coaches ins Spiel.

Als qualifizierte Fachperson, die Gesundheitsprozesse nicht nur versteht, sondern vernetzt begleitet – präventiv, auf Augenhöhe, evidenzbasiert. Die Health Coach Ausbildung bei Medletics vermittelt genau diese Kompetenzen: von funktioneller Diagnostik über Lifestylemedizin bis hin zu Stressregulation, Ernährung und Kommunikation. Für alle, die nicht nur mitdenken, sondern ganzheitlich mitgestalten wollen.

Sabrina Simma
Sabrina Simma

Sabrina, spezialisiert auf Sporttherapie in den Bereichen Orthopädie, Rheumatologie und Traumatologie, kombiniert ihr spezifisches Fachwissen mit praktischer Erfahrung in der Kommunikationswissenschaft. Ihre Fähigkeit, Forschung und Praxis zu verbinden, macht sie zu einer wertvollen Expertin in ihrem Bereich.

Sein Motto: 
Vanessa Muschick
Vanessa Muschick

Vanessa kombiniert ihre praktische Erfahrung in Leistungssport und Physiotherapie mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Guidelines und Publikationen. Sie versucht durch Aufarbeitung komplexer Themen rund um Training und Therapie das evidenzbasierte Arbeiten den Health Professionals zu vereinfachen und den direkt Bezug zur Praxis herzustellen.

Sein Motto: 
Christian Kirchhoff
Christian Kirchhoff

Christian ist Teil unseres Research Teams und beschäftigt sich täglich mit wissenschaftlichen Arbeiten und Studien. Er interessiert sich für das „Warum“ – also die Argumentationskette - hinter den Dingen und bereitet aktuelle Daten für Trainer, Therapeuten und Ärzte so auf, dass ihnen der Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gelingt.

Dominik Klug
Christian Kirchhoff

Christian ist Teil unseres Research Teams und beschäftigt sich täglich mit wissenschaftlichen Arbeiten und Studien. Er interessiert sich für das „Warum“ – also die Argumentationskette - hinter den Dingen und bereitet aktuelle Daten für Trainer, Therapeuten und Ärzte so auf, dass ihnen der Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gelingt.

Thiemo Osterhaus
Christian Kirchhoff

Christian ist Teil unseres Research Teams und beschäftigt sich täglich mit wissenschaftlichen Arbeiten und Studien. Er interessiert sich für das „Warum“ – also die Argumentationskette - hinter den Dingen und bereitet aktuelle Daten für Trainer, Therapeuten und Ärzte so auf, dass ihnen der Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gelingt.

Erweitere dein Wissen zu ganzheitlicher Diagnostik & Therapie!

Entdecke die Welt der funktionellen Medizin und erfahre mehr zu unserer Health Coach Ausbildung für Health Professionals.

Quellen
Mehr Infos